von Albert Glossner, 11. April 2023
Nach meinem Verständnis ist Selbstmitgefühl (self compassion) eines der wertvollsten Konzepte der Positiven Psychologie. Die amerikanische Psychologin Kristin Neff hat Selbstmitgefühl erforscht und einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Das Trainingsprogramm MSC (mindful self compassion) basiert auf ihren Arbeiten. Was bedeutet Selbstmitgefühl genau und wie kann man es entwickeln?
Den meisten von uns dürfte der Begriff „Selbstwert“ viel vertrauter sein als „Selbstmitgefühl“. Selbstwert oder auch Selbstwertgefühl (self esteem) ist eines der am besten untersuchtesten Konzepte der Psychologie. Selbstwert wird definiert als die subjektive und emotionale Bewertung des eigenen Selbst. In den 1980er und 1990er Jahren gab es in den USA ein „self esteem movement“. Eine Vielzahl von selbstwertsteigernden Trainings und Programmen für unterschiedlichste Zielgruppen wurden entwickelt und umgesetzt. Die zugrunde liegende Annahme war, dass ein niedriger Selbstwert ein auslösender Faktor für Kriminalität, Sucht, Leistungsabfall und Arbeitslosigkeit darstellt und umgekehrt ein hoher Selbstwert die psychische Gesundheit, das Wohlbefinden und die Produktivität steigert. Was liegt also näher, um alles zu tun, um beispielsweise bei gefährdeten Jugendlichen den Selbstwert zu steigern?
Leider konnte bei all diesen Programmen der erwünschte Effekt nicht bestätigt werden. Daher erfolgte in der Psychologie ab den 1990er Jahren eine differenziertere Betrachtung des Konzeptes Selbstwert. Neben positiven Effekten des Selbstwerts wurde nun beispielsweise auch beobachtet:
Überhöhter Selbstwert korreliert mit Aggression/ Gewalt (Baumeister 1996)
Hoher Selbstwert korreliert mit Egozentrismus, Narzissmus und mangelnder Empathie Fähigkeit sowie mit geringer Bereitschaft, auch kritisches Feedback anzunehmen (Sedikides 1993)
Eine große Rolle dafür, wie Selbstwert wirkt, scheint zu spielen, was die Quelle des eigenen Selbstwertes ist: Kommt Selbstwert von innen (Selbstbeobachtung) oder von außen (Feedback, Vergleich mit anderen)? Ist er zeitlich stabil oder eher wechselhaft, je nach Situation?
In einer Studie mit mehr als 3000 Versuchspersonen konnten Neff und Vonk (2009) belegen, dass das Selbstmitgefühl im Gegensatz zum Selbstwert über die Zeit hinweg stabiler und konstanter ist. Zudem ist Selbstmitgefühl ist zudem mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit als Selbstwert abhängig von sozialer Anerkennung, Erfolgen im Wettbewerb mit anderen oder dem Gefühl attraktiv zu sein. Laut Neff (2011) ist es nicht so leicht zu erschüttern, wenn wir das Gefühl für unseren eigenen Wert darauf begründen, dass jedes menschliche Wesen von Natur aus Respekt verdient – unabhängig davon, ob bestimmte Ideale erfüllt werden.
Kristin Neff hat Selbstmitgefühl in einer kritischen Lebensphase kennengelernt. Während sie gerade eine Scheidung erlebte und ihre Doktorarbeit schrieb, war sie unsicher, ob sie das schaffen und danach eine Arbeit finden würde. In dieser Situation dachte sie, es sei eine gute Idee, Meditation zu lernen und meldete sich in einer buddhistischen Meditationsgruppe an. Hier lernte sie die Idee kennen, sich selbst mit der gleichen Freundlichkeit und dem gleichen Mitgefühl zu behandeln, wie man es beispielsweise auch einem sehr guten Freund oder einer Freundin geben würde. Die positive Wirkung dieser Erfahrung auf sich selbst führte dazu, dass sie Selbstmitgefühl fortan in den Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit stellte.
Selbstmitgefühl umfasst nach Kristin Neff drei Komponenten:
Selbstmitgefühl umfasst eine positive, wertschätzende Betrachtung des eigenen Selbst, auch gerade im Erleben von negativen Gefühlen, die als Teil des menschlichen Lebens akzeptiert werden.
Neff verweist auf die Grundlagen des Selbstmitgefühls in der östlichen Philosophie. Im Buddhismus sind Konzepte des Mitgefühls und Selbstmitgefühls seit Jahrhunderten verwurzelt, während sie in der westlichen Psychologie relativ neu. Die positive Wirkung von Achtsamkeit für körperliche und psychologische Störungen ist dagegen im Westen schon seit einiger Zeit bekannt (Kabat-Zinn, 1996). Durch Achtsamkeit ermöglicht die Einsicht in das eigene körperliche, geistige und emotionale Erleben ermöglicht, was die Akzeptanz für das, was ist, erweitert. Der Aspekt der Verbundenheit im Selbstmitgefühl erkennt an, dass Leiden, Versagen und Unperfektheit zum menschlichen Leben gehören und dass alle Menschen Mitgefühl verdienen.
Im Selbstmitgefühl werden Gefühle von Wärme und Freundlichkeit aktiviert und auf sich selbst gerichtet. Dies hat lange Tradition in der östlichen Philosophie (vgl. Metta-Meditation) und wird aktuell im Bereich der Emotionsforschung auch im Westen untersucht (siehe Barbara Fredricksons Studien zur Loving-Kindness-Meditation).
Eines der häufigsten Missverständnisse in Bezug auf das Konzept Selbstmitgefühl ist seine Gleichsetzung mit Selbstmitleid. Konzeptuell lassen sich beide klar trennen, denn Selbstmitgefühl beruht auf einem Gefühl der Verbundenheit mit allen anderen Menschen und versteht Leiden wird als Teil der menschlichen Existenz verstanden. Im Gegensatz dazu wird Selbstmitleid wird dagegen als Isolation erlebt, und zwar im starken Kontrast zwischen dem eigenen Erleben und dem anderer („Nur mir geht es so schlecht – die anderen haben es gut.“).
Kristin Neff hat aufbauend auf der Struktur des MBSR-Trainings (Mindfulness Based Stress Reduction) von Jon Kabat-Zinn das MSC-Training (Mindful Self Compassion) entwickelt. Dieses MSC-Training umfasst 8 Wochen mit den Inhalten Selbstmitgefühl, Achtsamkeit, innerer Dialog, Einklang mit Kern-Werten, Umgang mit schwierigen Situationen und die Wertschätzung des Lebens und der Verbundenheit. Studien (Neff, 2013) haben gezeigt, dass das Training zu einer Steigerung des Selbstmitgefühls, mehr Lebenszufriedenheit, mehr Achtsamkeit, mehr Mitgefühl mit anderen und weniger Ängstlichkeit und depressiven Symptomen führt.
Einen persönlichen Eindruck von Kristin Neff und ihrer Arbeit bietet ein 20-minütiger Vortrag, der auch mit deutschen Untertiteln auf YouTube verfügbar ist: The Space Between Self-Esteem and Self Compassion (Kristin Neff at TED)
Das Thema Selbstmitgefühl ist ein wichtiger Bestandteil in der Ausbildung Positive Psychologie. Diesem Thema ist ein ganzer Tag gewidmet. Hier gewinnst du einen tieferen Einblick in die theoretischen Grundlagen, zum Stand der Forschung und erlebst eine Reihe von Übungen zum Selbstmitgefühl. Diese kannst du für dich selbst nutzen oder – je nach Kontext ausgewählt oder abgewandelt - in deiner Arbeit mit Menschen einsetzen.
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