von Albert Glossner, 14. März 2025
Die Theorie der psychologischen Grundbedürfnisse nach Deci und Ryan hat einen festen Platz in der Positiven Psychologie. Das Modell der psychologischen Grundbedürfnisse ist Teil der Selbstbestimmungstheorie (self determination theory), die im Jahr 2000 von Edward Deci und Richard Ryan als Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeit veröffentlicht wurde.
Im Zentrum der Forschungsarbeit stand die Frage, wie intrinsische Motivation entsteht. In zahlreichen Experimenten konnten sie beobachten, dass intrinsische Motivation wächst, wenn Menschen sich selbst als wirksam erleben (Grundbedürfnis nach Kompetenz), wenn sie entsprechend ihrer eigenen Interessen und Werte entscheiden können, anstelle kontrolliert und gesteuert zu werden (Grundbedürfnis nach Autonomie) und wenn sie verbunden mit anderen Menschen sind, also Wärme und Zuwendung erfahren, anstelle isoliert zu sein (Grundbedürfnis nach Verbundenheit).
Damit unterscheiden sich psychologischen Grundbedürfnisse grundlegend von der Dynamik physiologischer Bedürfnisse oder von Bedürfnissen im Sinne von Trieben. Motivation zum Handeln entsteht bei physiologischen Bedürfnissen (Hunger, Sicherheit), wenn diese nicht erfüllt sind. Sind diese Bedürfnisse erfüllt, entsteht Zufriedenheit und Ruhe. Insofern werden diese Bedürfnisse als Defizit-Bedürfnisse bezeichnet.
Psychologische Grundbedürfnisse sind dagegen wachstumsorientiert. Zwar kann beispielsweise ein Mangel an Autonomie durchaus auch zum Handeln motivieren. Die Kernidee ist aber, dass wir intrinsisch, also von innen heraus motiviert sind, wenn Situationen erleben, in denen die psychologischen Grundbedürfnisse erfüllt sind, wir also Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit erleben. Mehr noch: in ihrer Forschungsarbeit konnten Deci und Ryan belegen, dass die Erfüllung der Grundbedürfnisse Voraussetzung für persönliches Wachstum, Wohlbefinden und das Erleben von Ganzheit sind. Umgekehrt hat die Nicht-Erfüllung der Grundbedürfnisse negative Auswirkung auf Vitalität, psychischer Gesundheit und Wohlbefinden (Deci & Ryan 2000).
Die Art und Weise, wie die Grundbedürfnisse erfüllt werden, kann sich verschiedenen Kulturen stark unterscheiden und es gibt individuelle Unterschiede, wann sie als erfüllt wahrgenommen werden. Laut Deci und Ryan aber sind die drei psychologischen Grundbedürfnisse angeboren, universell gültig und notwendig für Wachstum und Wohlbefinden.
Menschen haben das grundlegende Bedürfnis nach Autonomie, also nach Selbstbestimmung und eigenverantwortlichem Handeln. Autonomie bezieht sich darauf, dass wir im Einklang mit den eigenen Interessen und den eigenen Werten entscheiden und handeln können. Damit ist nicht die absolute Unabhängigkeit oder völliger Individualismus gemeint, sondern eine integrierte Form der Freiheit. Das Gegenteil von Autonomie ist Zwang, Kontrolle, Fremdbestimmung.
Wir alle wollen uns fähig und wirksam erleben. Das Bedürfnis nach Kompetenz bezieht sich auf die Erfahrung, Aufgaben erfolgreich zu bewältigen, in der Interaktion mit der Umgebung wirksam zu sein und sich weiterzuentwickeln. Das Gegenteil von Kompetenz ist Hilflosigkeit.
Das Bedürfnis nach sozialen Beziehungen und Zugehörigkeit bezieht sich darauf, dass wir uns mit anderen Menschen verbunden und unterstützt fühlen. Das Bedürfnis nach Verbundenheit beinhaltet das Gefühl, soziale Beziehungen zu anderen Menschen zu haben und sich in einem unterstützenden sozialen Umfeld zu befinden.
Deci und Ryan haben zur Anwendung der Selbstbestimmungstheorie und dem Modell der drei Grundbedürfnisse in verschiedenen Lebensbereichen geforscht: Elternschaft, Erziehung, Gesundheitswesen, Sport und körperliche Aktivität, Psychotherapie, Virtuelle Welten, Beziehungen aber auch Arbeitsmotivation und Management.
Grundsätzlich bietet die Theorie der psychologischen Grundbedürfnisse überall da einen Nutzen, wenn es um Fragen der Motivation geht. Auf die Anwendung in den Bereichen Führung, Beziehung und Training gehe ich im Folgenden genauer ein.
Mittlerweile bestätigen vielfache Forschungsarbeiten (Deci et al. 2017), dass Führungsverhalten und Arbeitsplätze, welche die Befriedigung psychologischer Grundbedürfnisse unterstützen, Motivation, psychisches und physisches Wohlbefinden sowie eine verbesserte Leistung steigern.
„…Wer den Arbeitskontext in einer Organisation und damit die Leistung und das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter verbessern möchte, sollte jede in Betracht gezogene Richtlinie oder Praxis danach bewerten, ob sie (a) den Mitarbeitern den Erwerb von Kompetenzen und/oder Selbstvertrauen ermöglicht, (b) ihnen die Freiheit gibt, zu experimentieren und ihr eigenes Verhalten zu entwickeln, ohne sich unter Druck gesetzt und gezwungen zu fühlen, den Anweisungen zu folgen, und (c) Respekt und Zugehörigkeit gegenüber Vorgesetzten und Kollegen vermittelt…“ (Deci et al 2017).
In Führungstrainings ist mir immer wieder die Frage begegnet, was Führungskräfte tun können, um die die Motivation von Mitarbeitenden zu steigern. Das Modell der Grundbedürfnisse zu Grunde gelegt, kann diese Frage nach der Motivation umformuliert werden: was können Führungskräfte dafür tun, dass Mitarbeitende Autonomie, Kompetenz und Bindung in einem Ausmaß erleben, das für sie jeweils passend ist?
Allerdings unterscheiden sich Mitarbeitende darin, in welchem Ausmaß ihnen jeweils das Erleben von Autonomie, Kompetenz und Bindung wichtig ist. Die Füllstandsübung (siehe Workbook) ist gut dazu geeignet, eine individuell die Stärke des Bedürfnisses und Ausmaß der Erfüllung einzuschätzen.
Auch zum Aufbau positiver Beziehungen ist das Modell hilfreich: Wenn wir in Beziehungen das passende Ausmaß von Autonomie, Kompetenz und Bindung erleben, erleben wir die Beziehung als positiv und sind motiviert, diese zu pflegen und zu stärken. Dies bestätigt die Forschung: je mehr Bedürfnisbefriedigung in Liebesbeziehungen erlebt wird, desto höher ist die Beziehungszufriedenheit und das Engagement in die Beziehung (La Guardia 2008).
Dies wird insbesondere deutlich, wenn wir uns das jeweilige Gegenteil der drei Grundbedürfnisse vorstellen: Das Gegenteil von Autonomie ist Fremdbestimmung, das Gegenteil von Kompetenz ist Hilflosigkeit, das Gegenteil von Bindung ist Isolation. Stell dir eine Beziehung vor, die von Fremdbestimmung, Hilflosigkeit und dem Gefühl des Isoliertseins geprägt ist.
In der psychologischen Ratgeberliteratur (z.B. Stahl, 2017) wird insbesondere auf das Bedürfnis nach Bindung und nach Autonomie Bezug genommen. Häufig werden diese als sich widersprechend erlebt und Beziehungen zeichnen sich dadurch aus, dass jeweils ein Partner einen der beiden Pole besetzt. Stahl beschreibt, dass die Art und Weise, wie wir unser Bedürfnis nach Bindung und Autonomie leben, häufig durch Erfahrungen mit unseren ersten Bezugspersonen geprägt wurde. Dieses sich bewusst zu machen und sich zu erlauben, im Erwachsenenalter neue Erfahrungen zu machen, kann ein bedeutsamer Prozess zum Aufbau gelingender Beziehungen darstellen.
Die Frage, wie meine Grundbedürfnisse in einer bestimmten Beziehung erfüllt werden beziehungsweise wie ich sie leben kann, spielt eine wesentliche Rolle für die wahrgenommene Beziehungsqualität. Und kann somit als Motor und Orientierung für Entwicklung dienen.
Auch auf Lernsituationen lässt sich dieses Modell sehr gut beziehen: die Motivation zum Lernen ist dann hoch,
Somit kann dieses Modell auf die Frage „wie motiviere ich meine Teilnehmer“ eine Antwort bieten: Indem ich die Frage herunterbreche, auf: Wie kann ich Selbstbestimmung im Lernprozess ermöglichen, wie kann ich die Erfahrung von Kompetenz (Lernerfolg) unterstützen und was kann ich als Trainer*in dafür tun, dass Lernende positive Beziehungen aufbauen und Bindung erleben?
So lässt sich das Modell der Grundbedürfnisse auf unterschiedliche Lebensbereiche übertragen. Es ermöglicht ein tieferes Verständnis, welche Faktoren dazu beitragen, dass wir intrinsisch motiviert sind, uns wohl fühlen und uns persönlich entwickeln.
Um das Modell der psychologischen Grundbedürfnisse in deiner Praxis zu nutzen, gibt dir das Workbook eine wertvolle Unterstützung. Dieses Workbook enthält vier Übungen, die du für deine Arbeit als Trainer*in oder Coach unmittelbar einsetzen kannst. Für jede der vier Übungen findest du im Workbook eine ausführliche Beschreibung der Übung, zusätzliche Hintergrundinformationen und auch einen Vorschlag für eine jeweils passende Flipchart-Visualisierung. Natürlich kannst du alle Übungen auch in der Arbeit mit dir selbst einsetzen.
Die Psychologischen Grundbedürfnisse, die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan sowie deren Einsatz in der Arbeit mit sich selbst und mit anderen ist Bestandteil der Ausbildung Positive Psychologie.
Die Ausbildung bietet dir einen tiefen Einblick in alle zentralen Themenbereiche der Positiven Psychologie. Du setzt dich mit Konzepten, Interventionen und Forschungsergebnissen auseinander. Du erlebst vielfältige praktische Übungen der Positiven Psychologie. Das intensive Erleben unterstützt dich in deinem eigenen Aufblühen und ermöglicht dir, deren Wirkung genauer einzuschätzen und sie gezielt in deinem jeweiligen beruflichen Arbeitsfeld einzusetzen. All dies unterstützt dich darin, Positive Psychologie auf fundierte und wirkungsvolle Weise in deiner Arbeit mit Menschen anzuwenden.
Über den Autor
Albert Glossner ist Diplom-Psychologe, Trainer und Geschäftsführer der abb-seminare. Seit 2017 ist er zertifizierter Ausbildungstrainer Positive Psychologie und bietet seitdem Ausbildungen in Positiver Psychologie, zertifiziert durch DACH-PP an.
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